Vergessene Perlen

Tiflis, Jermuk, Bukarest, Igoumenitsa, Zürich

13.Februar 2020: Ein Jahr ist es her, seit wir abgereist sind. Jetzt ist es Zeit, das Geschriebene best of der Reise zu verschicken. Einige lustige Momente der gesamten Reise verpackt im Abschlussbericht.

 
Tbilisi, Georgien
Es ist März und Tiflis steckt noch etwas im Wintermuff, ein paar Sonnenstrahlen melden sich. Doch als wir mit Sadi Richtung Stadium los marschieren, sind wir uns nicht sicher, ob wir nicht doch die Handschuhe hätten einpacken sollen. Wir laufen zu dritt parallel mit grossen Schritten dem Troittoir entlang, das nie aufzuhören scheint. Immer wieder auf der Hut nach möglichen Fehltritten in eine Hundekacke oder abgrundtiefe Treppen in die untere Etage, die oft erst von Nahem sichtbar sind. Sadi erzählt wieder einmal aus seinem Leben und flucht über seinen Chef auf der Baustelle, der ihn von Stock zu Stock schickt mit schweren Gegenständen und alles kein Sinn mache. Sadi will auch da eine kleine Revolution in Gange setzen und kämpft für Ungerechtigkeiten, bis er dann später, wie wir erfahren, gefeuert wird. Er kämpft umso lauter weiter und widmet sich vor allem seinen Jobs mit Übersetzungen. Nun sind wir aber auf dem Weg zum Match Schweiz- Georgien und sind gespannt auf welche Schweizer Fans wir treffen. Für mich ist es der zweite Live Match in einem Stadion. Die Tickets sind spottbillig und die Organsation für den Eintritt und Koordination der anströmenden Masse beeindruckt uns. Das Stadion ist schon ziemlich voll. Wir setzen uns auf die blauen und weissen Plastikstühle. Sadi in der Mitte. Es wird geraucht und nervöses Warten durchdringt die Atmosphäre. Die Schweizer Fans sind in einer abgeschirmten Fan-Kurve. Ab und zu haben wir beim Eingang Schweizerdeutsch gehört, was uns einerseits etwas irritierte und gleichzeitig freute. Die Freude erlosch jedoch bald, als wir uns für die wohl bereits betrunkenen, bier trinkenden SchweizerInnen eher fremdschämten. Sadis Augen glänzen. Er wollte kaum mitkommen, doch mit dreifachem überreden sitzt er nun glücklich auf dem Stuhl und bedankt sich mehrmals bei uns für das Ticket. Von vorne dreht sich ein Papa mit seinem Sohn um, zeigt auf unsere Hände und einmal mehr sind diese ~schwupps~ mit Sonnenblumenkernen gefüllt. Anpfiff. Es geht los. Ob all die Georgier (leider auch da wenig Frauen im Publikum) bereits ahnen, dass wir aus der Schweiz sind und in ihrer Fan-Kurve sitzen?Wir klatschen und pfeiffen für das Schweizer Team inmitten der Georgien-Fans, doch das scheint niemanden gross zu kümmern. Konzentriert beobachten sie Pass für Pass, gehen emotional mit allen Bewegungen der Fussballer mit, die Stimmung ist authentisch und konzentriert, die Spannung unglaublich!
In der zweiten Hälfte geben die Georgier langsam die Hoffnung auf und die emotionale Unterstützung in der ersten Halbzeit verflüchtigt sich langsam. Ungefähr ein Viertel der Fans ist bereits zu Hause, als das Spiel zu Ende ist. Sonnenblumenkernschalen schmücken den Boden, die blau weissen Stühle wirken verlassen und die bedrückten einheimischen Fans verschwinden schneller als sie gekommen sind. Es ist, als hätte der Match nie stattgefunden.

Jermuk, Armenien
„Ja genau, ab 19 Uhr Nachtessen und morgen um 10 Uhr nach Ihrem Frühstück haben Sie den Arzttermin.“, erklärt die Frau auf English am Telefon,das mir soeben in Jermuk (Armenien) ans Ohr gedrückt wurde. Rosi, die kleinere rundliche Frau im weissen Kittel steht in unserem grossen Hotelzimmer mit Spannteppich, lächelt uns an und streckt den Daumen nach oben. Sie verabschiedet sich und wir verstehen wie versteinert in unserem für die letzten Verhältnisse chicen Hotelzimmer. Arzttermin? Rosi im weissen Kittel? Was haben wir hier genau gebucht?
Im Reiseführer hiess es, Jermuk sei ein kleines Städtchen in den Bergen Armeniens und sei berühmt für seine Quellen. Als wir dann ein tolles Hotel finden, das anzeigt, es gebe ein Swimming Pool inklusive, gönnen wir uns dieses Angebot mit Vorfreude auf etwas Geplantsche.Nach vielen sich schlängelnden Strassen und immer weniger Menschen im Bus, kommen wir endlich dort an. Es liegt Schnee auf dieser Höhe und die Luft ist angenehm frisch. Das Hotel scheint verlassen und die Dame, die erst nach drei Mal klingeln an der Reception auftaucht, versteht kein Wort English. Dann taucht Rosi auf, die angeblich Englisch kann, wobei sich dies wohl auf 3 Wörter beschränkt. Das Sowjet-Stil-Gebäude ist immens gross und klotzig eingerichtet. Irgendwann stehen wir dann mit Rosi im Zimmer und haben eben diese Managerin am Draht. Der Pool sei aktuell im Umbau, aber einen Arzttermin kriegen wir. Arzttermin? Sollen wir absagen? Wir entscheiden uns, mit dem Zug mitzufahren und überlegen was wir sagen. Reisefieber? Heimweh? Obwohl uns etwas mulmig zumute ist, lachen wir über unsere Ideen und schlafen im Riesen-Bett wunderbar ein. Mittlerweile haben wir rausgefunden, dass noch ein anderes Paar im Hotel residiert. Sonst nur Angestellte. Die Stühle und Tische im Esssaal sind geschmückt wie für eine kitschige Hochzeit. Das Essen üppig und fettig. Bauchweh könnten wir nun noch auf die Liste tun, denn wirklich gut ist das Essen nicht. Als wir dann am nächsten Morgen tatsächlich mit der Ärztin im Zimmer sitzen, sind wir ehrlich und erklären auf Englisch, dass wir nicht so recht wissen, wo wir gelandet sind. Anscheinend ist es ein Sanatorium, das in der Sowjet-Zeit seine Blütezeit hatte und auch heute noch als solches dient. Wir sind natürlich glücklich und froh, sind wir beide grundsätzlich gesund und sie stellt uns ein entspannendes Programm für den Tag zusammen. Silvio soll etwas für seine Schulterschmerzen auf der linken Seite kriegen und der Mineralcocktail werde sicher auch meiner Verdauung gut tun. Mit einem frohen Lachen schickt uns die Ärztin zu der uns bereits bekannten Rosi und diese empfängt uns herzlich und scheint sich auf den Tag mit uns zu freuen. Das kleine Büchlein in der Hand studiert Rosi nun genau und befolgt die Anweisungen der Ärztin. Sie ruft immer wieder unsere Namen durch den leeren Gang auf und sagt „Do this. Good. Yes. Wait. Ok. Good?“ Wir kriegen eine tolle Massage, Schlammwickel im Leoparden-gemusterten Tuch, Silvio eine Magnet-Therapie, einen Mineralcocktail aus Schaum, Inhaliersequenzen mit einem jahrhundert alten Gerät, ein heilendes Bad, eine Schlauchmassage und zum Abschluss Kneipp. Das ganze Prozedere dauert den ganzen Tag. Wir lieben Rosi und sie uns. Im Bad summe ich mit ihr zusammen und in den Pausen dazwischen meint sie, wir sollen unbedingt das Klavierkonzert der Ärztin anhören. Zwischendurch sehen wir immer wieder mal das ältere russische Ehepaar, das dieses Programm jeden Tag während zehn Tagen durchführt. Zufrieden und erholt freuen wir uns auf den Abend im ruhigen, komfortablen Zimmer - wir wurden richtig verwöhnt! Beim Abschied am nächsten Tag gibt es noch einige Verwirrungen aufgrund der Sprachbarrieren, doch schlussendlich steht der richtige Taxifahrer vor der Tür und wir umarmen Rosi, die unser geschenktes Mini-Sackmesser stolz in den Händen hält und uns zum Abschied winkt, als hätten wir uns zum ersten Mal vor 40 Jahren von ihr verabschiedet. Was für eine skurrile Hotel-Erfahrung!

Im Zug, überall
Es ist Februar und kalt in den Zügen. Familie und Freunde stossen in der Bahnhofsbar auf unsere Reise an, begleiten uns zum Kopf des Geleises und umarmen uns kurz vor Abfahrt. Wir finden unser Abteil, stellen die Rücksäcke rein und schauen aus dem Zugfenster in die Menge. Bald gehts los. Was für ein Gefühl. Abschied und Vorfreude, Bammel und Zuversicht, Freude und Abschiedsgefühle. Wir winken, Flo und Laurin rennen noch mit dem Zug mit. Zurück bleibt eine Traube von Menschen, die sich teils besser teils entfernter kennen. Wie sie wohl nun von diesem Abschied auf dem Geleis auseinander gehen? Immer wieder stelle ich mir diese Situation vor. Das monotone Geräusch der Geleise schaukelt uns in die Welt der Reise. Das Abteil mit Tür ist sauber. Die runterklappbaren Schlafsitze sind vis-a-vis angeordnet. Die Beine des Gegenübers sind nicht weit entfernt. Immer wieder steigt jemand Neues ins Abteil dazu. Es scheint, als würde jede Gruppe lieber für sich sein.

Es rattert. Es ist heiss. Erdrückend heiss. Unterschiedliche Gerüche steigen auf. Die Chips, die wir öffnen sind so warm, als wären sie frisch aus der Fritteuse in unsere Hände gelangt. Was die Menschen wohl alles in ihren grossen Plastiksäcken transportieren? Zum Glück gibt es oberhalb der Betten im alten Sowjet-Zug in Kasachstan auch noch genügend Platz für all das Gepäck. Das kleine dünne Mätteli wird auf das Kunstlederbett gelegt und der Zuständige des Zugwaggons bringt weisse Tücher und ein Kopfkissenbezug. Zum Glück, denn freiwillig hätte ich mich ungern 30 Stunden auf die müffelige dünne Matratze und das verschwitzte Kopfkissen gelegt. Hinlegen oder sitzen? In den Zügen in Zentralasien sehen wir immer wieder viele ältere Menschen, die kaum selber gehen können und wackelig wirken, doch diese langen Zugfahrten mitmachen. Als ungeschriebenes Gesetz ist klar, dass wer die unteren zwei Betten kriegt, hat zwar ein Tisch für Verpflegung und Spiele, es zwängt sich aber auch immer wieder ein fremdes Füdli oder Füsse von der oberen Matratze auf die untere. Alle packen ihre Tassen und Krüge aus und giessen vom heissen Wassser im Gang des Zuges ihren Tee oder die Suppe ein. Es wird geplaudert, geschnarcht und gegessen. Uns wird Tee und Essen angeboten, einige neugierige Menschen strecken ihre Köpfe zu unserem Abteil oder probieren, mit russischen Wörtern Kontakt aufzunehmen. Es gibt keine Türen für Abteile, der ganze Wagen ist offen. Die Stimmung ist einmalig, auf seine Weise intim und nach 30 Stunden Zugfahrt hat man das Gefühl, allen Menschen die in diesem offenen Schlafwaggon mitgefahren sind, etwas besser zu kennen. Es wurde etwas geteilt, das alle dann in verschiedene Richtungen mit sich mitnehmen und mittragen. Die Zugfahrten vor allem in Zentralasien bleiben uns in spezieller Erinnerung. So nahe an den Menschen, ratternd durch die Steppen und einöden Landschaften. Verschwitzt und verschlafen, hungrig und überessen. Die Verkäufer, die in Kasachstan in die Züge steigen und Kleider, geräuchterten Fisch, frische Teigtaschen oder Plastikspielzeug verkaufen, verändern den Raum und bringen Bewegung rein. Sie sind kurze Zeitgenossen, die die meist ruhige wohnzimmermässige Stimmung etwas aufwirbeln. Die Gefühle, die Gerüche und die Stimmungen sind einzigartig und unverwechselbar. Ach Zug, du bist Gold wert. Und als absoluter Bonus: mir wird es nicht übel, wie in den vielen Autofahrten. Ausser wenn der Verkäufer der geräucherten Fische zu viel hin und her spaziert.

Igoumenitsa, Griechenland
Wir stellen uns in Igoumenitsa in die Reihe, ganz vorne beim Ufer. Der gelb leuchtende Kasten zeigt mit rotem Schriftzeichen die Zahl 5 an. Es ist Mitternacht. Und die Fähre noch nicht hier. Um 00:30 Uhr sollte sie losfahren. Die Autos und Lastwagen sind schön geparkt. Doch bald löst sich das Ganze auf, mehr Leute steuern auf die schöne Reihe zu und im Nu entsteht ein Durcheinander und Gedränge. Die Menschen zeigen siech wieder mal von ihrer drängeligsten Seite. Sie pirschen sich hervor, ungeachtet was links, rechts, vorne und hinten steht. Wie Wölfe lauern sie auf und schnappen nochmals den bessern Platz einen halben Schritt weiter vorne. Das menschliche Rudelverhalten zeigt sich von seiner schlimmsten Seite. Die Masse ist nervös und ungeduldig. Koffern und Säcke werden ständig umplatziert. Jemand schreit da, der andere brüllt dort. Die Hafenplatziererin brüllt auch in die Masse und bringt sie zum Bewegen - nach hinten, damit die Fähre auch anlegen kann. Wir schauen der Masse zu. Und als man dann auch tatsächlich einsteigen kann, schnallen wir unsere Rucksäcke vorne und hinten auf und sind froh, dadurch etwas geschützten persönlichen Raum und einmal mehr ein Abwehrschild zu gewinnen.

das kleine Radio
Das Metall-Döschen klappert und plötzlich erklingt Musik vom kleinen Radio aus meinem Rucksack. In grossen Schritten steuern wir auf den Nachtzug nach Bukarest zu und als ich merke, dass es mein Mini-Radio ist, der sich per Knopfdreh selbstständig gemacht hat und die Würfel im Döschen im Rhythmus mitklappern, muss ich vor lauter Lachen fast stehen bleiben obwohl wir nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt haben.
Das kleine Radio, das ich beim Ausmisten wiedergefunden habe und das ich bestimmt seit der Hälfte meiner Lebzeit besitze, begleitet uns immer wieder und lässt uns jeweils in die aktuelle Musik des Landes und der Sprache eintauchen. Vor allem im Eco-Camp in Armenien kommt es zu vollem Zuge und motiviert uns bei jensten Umbau-Arbeiten zu tänzerischen Bewegungen. Die Würfel begleiten mich seit Kindheit und ziehen auf dieser Reise eine rote Linie - ob im Zug, auf dem Schiff, am Bahnhof, im Café und Restaurant, es wird gewürfelt bis ein Sieg in Sicht ist. Wir adaptieren die Regeln je nach Sprachkenntnissen und sind zeitweise mehr als nur süchtig. Die Verbindungen und Situationen, die durch das simple Spiel entstehen sind magisch und verbindend. In vielen Ländern, dir wir durchreisten und je östlicher desto mehr, sind Brett- und Würfelspiele im öffentlichen Raum selbstverständlich. Dazu wird Tee getrunken oder gebannt zugeschaut, sodass es einem das Gefühl gibt, die Spielenden werden beinahe von den Zuschauern erdrückt. Spannung, Konzentration, Freude und Frust - alles an einem Ort, draussen im Park. Wie wärs, wenn du und ich mal wieder eine Runde draussen würfeln?
Ob es das Beten vor der Abfahrt oder beim Passieren einer Kirche, die vielen Friedhöfe an Hügeln oder das Erledigen von stadtgärtnerischen Aufgaben durch ältere Menschen, deutsch angeschriebene Lastwagen und geschleckte Männerfrisuren aus den 70ern - einige Muster und Gewohnheiten beobachten wir in vielen Ländern im und östlich des Kaukasus.

Zürich
Sternen-Grill, die beste Bratwurst aller Zeiten. Abends um 21 Uhr, neben mir am Tisch draussen bei kühlen Herbsttemperaturen lausche ich der Konversation des Vater und Sohnes zu. In starkem britischen Akzent sprechen sie auf Englisch zuerst über die vielen Banker und dann 10 Minuten über das Stadtquartier Wiedikon. Der Sohn betont immer wieder, wie ihm das Quartier und die Menschen gefallen. Papa meint aber, das seien aber zu viele Graffitis und Kleber, die Menschen da würden auch gar nicht arbeiten.Mit englischem Humor versucht der Sohn verzweifelt seinen Vater in seiner Meinung etwas zu lockern, doch gibt irgendwann auf und meint nur sein einziger Standpunkt war, dass er Wiedikon symphatisch fände und dort gerne wohnen würde, auch wenn Menschen wie sein pessimistischer Papa das anders sähen. Zürich unter englischer Lupe, verstrickt in einer Vater-Sohn-Beziehung mit einer Mischung trockenem britischen Humor und Ernsthaftigkeit.
Zürich zeigt sich von seiner besten Seite, auf dem Fahrrad durch die schmalen Gassen ins neue Zuhause fahren und auf der Brücke den Fluss und die beleuchteten alten schönenHäuser bestaunen - es wirkt im Moment alles abstrakt und wie in einem Märchen. Die sichere und behütete Schweiz verzaubert sich mit den Goldblättern des Herbstes in ein farbiges Meer.

Willkommen Zuhause!